Die EU benötigt eine Iran-Strategie, nicht einfach nur »Weitere Sanktionen«

Analyse
Die politischen Entscheidungsträger*innen in Europa müssen ihre Herangehensweise gegenüber dem Iran überdenken und eine neue Strategie entwickeln, die nicht nur die staatliche, sondern auch die menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt stellt. Eine solche Strategie würde sich auf eine konsequente Menschenrechtsperspektive und die nachhaltige Unterstützung der Zivilgesellschaft konzentrieren.
Eine Menschenmenge protestiert in Köln für die Menschenrechte im Iran. Eine Person mit bemaltem Gesicht und erhobener Faust hält ein Schild. Anderen klatschen und halten Schilder hoch.  A crowd protests for human rights in Iran in Cologne | A person with a painted face and a raised fist holds a sign. Others clap and hold up signs.
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Köln 2022: Proteste gegen die Menschenrechtsverletzungen im Iran.

Im Laufe der letzten Jahre ist die europäische Iran-Strategie immer wieder ins Leere gelaufen. Sie bot genauso wenig eine Antwort auf den Rückzug der USA aus dem Atomabkommen im Jahr 2015, wie auf die brutale Unterdrückung der Iraner*innen durch das Regime. Hat Ersteres Teheran dazu motiviert, seine nuklearen Aktivitäten zu erhöhen, so führte Letzteres dazu, dass sich die Bevölkerung zum größten Teil verarmt, im Gefängnis oder im Exil wiederfindet. Währenddessen hat Teheran die Region weiter durch verbündete Milizen in Drittländern destabilisiert, am brutalsten wohl durch die anhaltende Unterstützung der Hamas gegen Israel.

Angesichts dieser Bilanz sollten politische Entscheidungsträger*innen in Europa ihre Herangehensweise gegenüber dem Iran überdenken und eine Strategie formulieren, die Menschen, nicht nur Staaten, und menschliche, nicht nur militärische Sicherheit in den Mittelpunkt stellt. Die Leitfrage, sowohl für unmittelbares politisches Handeln, als auch für die Entwicklung einer langfristigen Strategie, sollte lauten: Wie kann das Vorgehen der EU zur Sicherheit der Menschen in Iran und der Region beitragen und gleichzeitig europäische Interessen und Werte fördern? Die Antwort darauf beginnt mit der Erkenntnis, dass die aktuelle Herangehensweise weder passende Instrumente, noch einen strategischen Rahmen bietet. 

Wie kann das Vorgehen der EU zur Sicherheit der Menschen im Iran und in der Region beitragen?

Wir werden deshalb zunächst die aktuelle Iran-Politik der EU in den Blick nehmen und uns dabei besonders auf den Einsatz von Sanktionen als Standardreaktion auf das verhängnisvolle Vorgehen Irans konzentrieren. Anschließend zeigen wir auf, wie dieser einseitige Ansatz die wirksame Förderung von Menschenrechten, eine adäquate Unterstützung der Zivilbevölkerung und die Berücksichtigung regionaler Sicherheitsbelange außer Acht lässt. Schließlich schlagen wir eine Reihe von Leitprinzipien für eine neue europäische Herangehensweise gegenüber Iran vor. Im Mittelpunkt steht dabei die Priorisierung einer umfassenden und konsequenten Menschenrechtsperspektive, das kritische Überdenken des Einsatzes von Sanktionen sowie  anhaltende Unterstützung von und Konsultation mit der Zivilgesellschaft.

Europäische Iranpolitik ist zunehmend konzeptlos

Seit Jahrzehnten unterdrückt die Islamische Republik auf brutale Art und Weise ihr Volk, sorgt für Unsicherheit in der Region und bedroht auch die europäische Sicherheit und die Sicherheit einzelner Bürger*innen, indem sie Diaspora-Aktivist*innen ins Visier nimmt oder eine sogenannte Geisel-Diplomatie betreibt. In der Vergangenheit gab es die Tendenz, Iran als Herausforderung zu betrachten, mit der sich Spezialist*innen auseinandersetzen – entweder Sicherheitsexpert*innen, vor allem aus dem Nuklearbereich, oder Menschenrechtsaktivist*innen, aber selten gemeinsam. Schon im September 2022 war die EU nicht mehr in der Lage, diese Perspektiven miteinander in Einklang zu bringen angesichts der brutalen Unterdrückung der Bewegung »Frau, Leben, Freiheit«, ausgelöst durch den Tod in Haft der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini. Heute haben die jüngsten regionalen Eskalationen in Folge der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober 2023 und des darauffolgenden Krieges in Gaza den seit langem bestehenden iranisch-israelischen Schattenkrieg offengelegt – mit möglicherweise verheerenden Auswirkungen für die gesamte Region, doch ohne ein Rezept dafür, wie Europa damit umgehen soll.

Das Ausbleiben einer Europäischen Antwort bleibt von der iranischen Führung nicht unbemerkt, die ihr brutales Vorgehen gegen Bürgerrechte im Inneren massiv verstärkt hat während sich die internationale Aufmerksamkeit auf die regionalen Unruhen konzentriert. Am Tag des iranischen Angriffs auf Israel, am 13. April, nahm die Sittenpolizei ihre Patrouillen im Zuge einer Kampagne wieder auf, um Frauen zu verhaften, die angeblich gegen die strenge Kleiderordnung des Staates verstoßen haben. Erst im vergangenen Monat bestätigte die UN-Fact Finding Mission on Iran offiziell, dass die Islamische Republik Iran bei der Niederschlagung der Proteste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter geschlechtsbezogene Verfolgung („gender persecution“), begangen habe. Und selbst das folgte einem über Jahre immer härter werdenden Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft und einer Eskalation repressiver Maßnahmen gegen Frauen, alles innerhalb einer wirtschaftlichen Situation, die für die Mehrheit der Iraner*innen hart ist, noch härter jedoch für Frauen, marginalisierte und vulnerable Gruppen.

Währenddessen konzentrierte sich die EU auf die Wiederauflage des Atomdeals, was eine einseitige Politik zur Folge hatte, die weder der katastrophalen Menschenrechtssituation im Land noch anderen Elementen regionaler Destabilisierung Priorität einräumte. Sobald diese Themen die Schlagzeilen beherrschten, reagierte die EU mit ihrem politischen Standardinstrument der vergangenen zwanzig Jahre: Sanktionen. Selbst das Europäische Parlament, das der Sanktionspolitik der EU zur Unterstützung der Atomverhandlungen Anfang der 2010er Jahre noch recht kritisch gegenüber stand, hatte als Reaktion auf den beispiellosen Angriff Irans auf Israel nur weitere Sanktionen im Angebot: gegen die Islamische Revolutionsgarden (IRGC), gegen die Gesamtheit der libanesischen Hisbollah (nicht nur deren militärischen Arm), und im Rahmen des UN-Sanktionsmechanismus das Wieder-in-Kraft-setzen (Snapback) von UN-Sanktionen, wenn der Iran weiterhin die Inspektionsarbeit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) behindert. 

Die Frage lautet jedoch: Können die vorgeschlagenen Maßnahmen die angegebenen Ziele erreichen und das Verhalten des iranischen Regimes ändern?

Sanktionen sind ein zweischneidiges Schwert, das zielsicher geführt werden muss

Betrachtet man Ziel, Gestaltung, Umsetzung und letztendliche Wirkung von Sanktionen, dann kommen erhebliche Zweifel an ihrer Zweckmäßigkeit auf.

Ziel: Wenn Sanktionen dazu dienen sollen, das Verhalten der betroffenen Partei zu ändern, dann haben sie im Kontext der Verhandlungen, die zum Atomabkommen von 2015 geführt haben, wohl gewirkt. Das steht in Einklang mit Forschungsergebnissen, die darauf hindeuten, dass Sanktionen erfolgreich sein können, wenn sie klar formulierte, spezifische Forderungen benennen. Im Gegensatz dazu scheint die unilaterale Sanktionierung Irans durch die Vereinigten Staaten unter der so genannten Kampagne des »maximalen Drucks« ab 2018 von diesen Ergebnissen losgelöst zu sein: Hierbei geht es darum, dem Gegner, anderen Akteuren oder der eigenen Öffentlichkeit Handlungsbereitschaft zu signalisieren, ohne dass Fortschritte hinsichtlich der erklärten politischen Ziele im Vordergrund stünden und unter Inkaufnahme nachteiliger Auswirkungen auf die iranische Bevölkerung.

Gestaltung: Zielgerichtete Menschenrechtssanktionen gelten gemeinhin als weniger schädlich als sektorale Sanktionen, und gehören in der Tat zu den wenigen verfügbaren Rechenschaftsinstrumenten. Wenn sie schlecht konzipiert sind, können sie dennoch mehr Schaden anrichten als sie Gutes bewirken. Bislang wird die Listung von Einrichtungen oder Einzelpersonen größtenteils von den nationalen Außenministerien durchgeführt. Dabei werden diejenigen, die potentielle Auswirkungen der Maßnahmen vor Ort einschätzen könnten, ob nun auf die Zivilgesellschaft, das Leben der Menschen oder Menschenrechtsarbeit vor Ort, kaum einbezogen. Schlimmer noch, der starke Signaleffekt von Sanktionen – die »Bestrafung« eines Widersachers – hat in der Regel Vorrang vor anderen Prioritäten wie Menschenrechten oder regionaler Zusammenarbeit.

Umsetzung: Angesichts wiederholter Reisen sanktionierter iranischer Amtsträger nach Europa, besteht im akademischen und politischen Diskurs Einigkeit über die Notwendigkeit, die tatsächliche Funktionsfähigkeit und Reichweite von Sanktionen zu überprüfen – jedoch ohne praktische Konsequenzen. Da die Mitgliedstaaten verantwortlich sind für die Umsetzung von Visumverboten und das Einfrieren von Vermögen, obliegt es auch ihnen, Koordinations- oder Kontrollmechanismen und Leitlinien für die effektivere Umsetzung von Sanktionen einzusetzen. Das Verschärfen bestehender Maßnahmen hat jedoch nicht den gleichen kommunikativen Wert wie das Verhängen neuer Sanktionen gegen »böse Akteur*innen«, weshalb Letztere den Ersteren oft vorgezogen werden.

Wirkung: Die Ergebnisse von Sanktionspolitik sind angesichts der großen Menge an Einflussfaktoren bekanntermaßen schwierig zu messen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die drastischen finanziellen und wirtschaftlichen Sanktionen der iranischen Bevölkerung mehr geschadet haben als dem Regime. Während das Regime ausgeklügelte Methoden entwickelt hat, um Sanktionen zu entkommen oder sie zu umgehen, haben gewöhnliche Bürger*innen mit höheren Importpreisen und den erhöhten Kosten für Finanztransaktionen zu kämpfen, die sie sich kaum leisten können. Sie leiden bereits unter Unterdrückung, Korruption und Misswirtschaft und werden dadurch nun auch in ihrer politischen Handlungsfähigkeit geschwächt: Wenn Menschen versuchen, über die Runden zu kommen, fehlen ihnen die Zeit, die geistige Kapazität und die Ressourcen für politischen Aktivismus.

Unter diesen Umständen wirkt der prominente Ruf nach der offiziellen Listung der Revolutionsgarden als Terrororganisation besonders fehlgeleitet. Zum einen würde dieser Schritt nicht über die bestehenden Sanktionen gegen IRGC-Mitglieder hinausgehen, die im Rahmen der EU-Politik gegen die Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen (WMD) bestehen. Es wäre deshalb eine eher symbolische Maßnahme, die als solche durchaus ihre Berechtigung haben mag, die der EU jedoch kein Druckmittel bietet, um Iran zum Einlenken zu bewegen. Das beste Beispiel dafür ist Washingtons Terrorlistung der Revolutionsgarde im Jahr 2019, die in der Fülle der bestehenden US-Sanktionen untergegangen ist. Tatsächlich würde ein Verbot aller Einrichtungen, Institutionen und Organisationen, die nur lose mit der IRGC in Verbindung stehen, jeglichen diplomatischen oder zivilgesellschaftlichen Kontakt in das Land erheblich erschweren, wenn nicht sogar verunmöglichen, wenn man bedenkt, wie sehr diese Organisation das Land nach Jahrzehnten der Sanktionen durchdrungen hat. Deshalb sind die möglichen Auswirkungen sowohl auf die sozio-ökonomische Lage der Iraner*innen im Allgemeinen als auch auf die Zivilgesellschaft und die Menschenrechtsarbeit im Besonderen wichtige Kriterien für eine Listung der IRGC, zusätzlich zu der tatsächlichen Einschätzung, wie eine solche Listung das Regime von seiner entsetzlichen Politik abhalten könnte.

Daraus ergibt sich ein doppeltes Paradoxon: Die EU will das Verhalten des Iran letztendlich verändern, dennoch verfolgt sie eine Politik, die zu einer Schwächung der wichtigsten Akteur*innen des Wandels führt, nämlich der Menschen und der Zivilgesellschaft vor Ort. Zudem nimmt ein allzu isolationistischer Ansatz Europa jeglichen verbleibenden Einfluss und erhöht gleichzeitig die Abhängigkeit Irans von Unterstützern wie China und Russland. Lediglich mehr Druck auszuüben, ohne einen übergreifenden strategischen Rahmen und ergänzende Maßnahmen zu entwickeln, wird nicht zu den erwünschten Ergebnissen führen. Stattdessen wird sich die Sicherheit der Menschen in Iran und der Region verschlechtern. 

Ein Rahmen für Menschenrechte und regionale Sicherheit

Jeder strategische Ansatz, der darauf abzielt, das iranische Regime zu schwächen, ohne den Bürger*innen zu schaden und gleichzeitig die iranische Zivilgesellschaft zu stärken, muss weitere interne und externe Faktoren miteinbeziehen. Zu den Schlüsselelementen gehören die Förderung von Menschenrechten und die Unterstützung der Zivilgesellschaft, sowie regionale Sicherheit.

Jahrelang gab die europäische Politik den Atomverhandlungen Vorrang vor der substanziellen Auseinandersetzung mit den schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen des Regimes.

Die Frauen- und Menschenrechtssituation sowie das Ausmaß des verfügbaren „civic space“ fungieren wie ein Frühwarnsystem für die innere und äußere Friedfertigkeit eines Staates. Forschungen deuten darauf hin, dass ein Staat, der sich gegenüber marginalisierten Gruppen im Inneren brutal und repressiv verhält, mit größerer Wahrscheinlichkeit auch nach außen hin aggressiv reagiert. Und tatsächlich sind Menschenrechte eine der Säulen der EU-Politik gegenüber Iran, wenn auch mehr auf dem Papier als in der Praxis. Jahrelang gab die europäische Politik den Atomverhandlungen Vorrang vor der substantiellen Auseinandersetzung mit den schwerwiegenden Menschenrechtverletzungen des Regimes. Solange die Diplomatie Fortschritte machte, mag man das als vertretbaren Ansatz verargumentieren können. Doch das Ausbleiben dieser Fortschritte nach dem Rückzug der USA aus dem Abkommen und die brutale Unterdrückung wiederkehrender Proteste seither haben dessen Schwächen offenbart.

Die europäische Reaktion auf die harte Niederschlagung der »Frau, Leben, Freiheit«-Revolte ist ein Beispiel für das Fehlen eines umfassenden Ansatzes. Die ergriffenen Maßnahmen, von Sanktionierungen bestimmter Einzelpersonen und Institutionen bis hin zur Förderung von Rechenschaftspflichten auf UN-Ebene, blieben eher isolierte Schritte. Was fehlt, ist die Initiative zum Aufbau eines strategischeren Ansatzes, in dem menschenrechtliche Perspektiven und Sicherheitserwägungen gleichwertig sind und der ergänzt wird durch die tatsächliche Unterstützung für jene Kräfte, die ihre Rechte von innen heraus einfordern. Die Tatsache, dass die EU nicht mit mehr Nachdruck auf den Bericht der UN-Fact Finding Mission on Iran vom März 2024 reagiert hat, in dem formal dokumentiert und festgehalten wurde, dass Teheran Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, ist ein deutliches Beispiel für diesen inkohärenten Ansatz. Auch wurden kaum systematische Programme zur Unterstützung oder Stärkung von Menschenrechten oder zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in Iran aufgesetzt, obwohl die aktuell stattfindende Ausschaltung unabhängiger Stimmen im Land eine der größten Herausforderungen für die EU-Politik gegenüber dem Iran darstellt. 

Seit Herbst 2023 ist auch die regionale Dimension erneut ins öffentliche Interesse gerückt, bislang hat die EU jedoch nicht den Versuch unternommen, einen umfassenden europäischen Ansatz hierfür zu entwickeln. Stattdessen wurde der politische Kontext der Region, der geprägt ist von miteinander verwobenen Konflikten, beiseitegeschoben. Das mag vielleicht plausibel gewesen sein für spezifische Nichtverbreitungsfragen in Zusammenhang mit dem iranischen Atomprogramm, die in einem multilateralen Rahmen behandelt wurden. Mit dem erneuten Ausbruch des israelisch-palästinensischen Konflikts, in den alle Nachbar- und Golfstaaten, einschließlich des Irans, in unterschiedlichem Maße verwickelt sind, ist dies jedoch weniger überzeugend. Während die EU zu Recht schnell auf den iranischen Drohnen- und Raketenangriff auf Israel im April 2024 reagierte, hat sie die vorangegangene israelische Attacke auf eine iranische diplomatische Einrichtung in Damaskus nicht verurteilt. Sie bringt auch nicht ihr ganzes Gewicht zum Tragen wenn es um eine unmittelbare Reaktion auf den andauernden Krieg in Gaza, den ins Stocken geratenen arabisch-israelischen Normalisierungsprozess oder frühere Versuche zur Entwicklung eines gemeinsamen Sicherheitssystems in der Region geht. Die EU sieht sich dem zunehmenden Vorwurf doppelter Standards ausgesetzt und tut sich offensichtlich schwer damit, ihrem Anspruch gerecht zu werden, weltweit für internationale Normen und Menschenrechte einzutreten.

Leitprinzipien für einen neuen Ansatz gegenüber Iran

Zweifellos liegt es in erster Linie an Iran, die Lage grundlegend zu ändern, sei es nun international oder in der Region. Immer wieder hat sich das Regime jedoch als komplett reformresistent erwiesen, weshalb echter Wandel aus dem Inneren der Gesellschaft kommen muss. Die Iranpolitik des Westens wiederum, besonders die umfassenden wirtschaftlichen Sanktionen der USA, haben zu einer Stärkung der Hardliner und einer Schwächung der Bevölkerung geführt. Insofern wäre ein europäisches »weiter so«, angesichts des Befunds, dass die aktuellen Strategien nicht zu einer Besserung der Situation geführt haben, wenig sinnvoll.

Der hier vorgeschlagene umfassende, auf menschlicher Sicherheit basierende Ansatz bietet hingegen eine anwendbare Alternative. Eine solche Strategie beruht auf der Erkenntnis, dass das schlichte Verfolgen einer Machtpolitik zu weiteren militärischen Eskalationen beitragen könnte. Stattdessen braucht es eine machtkritische Analyse regionaler Dynamiken und einen Fokus auf politische Lösungen – sei es nun für den Konflikt zwischen dem Iran und Israel, für den Krieg in Gaza oder für regionale Nichtverbreitungsanliegen. Jene EU-Staaten, die eine feministische Außenpolitik verfolgen, werden diese Grundsätze im Kern als feministisch anerkennen; gleichzeitig bleiben seine wesentlichen Elemente auch allen anderen sowie der EU in ihrer Gesamtheit, die sich keinem feministischen Rahmenkonzept verpflichtet hat, zugänglich.

Drei solche Prinzipien sind zentral: eine umfassende Menschenrechtsperspektive, ein Überdenken des Einsatzes von Sanktionen und das Einbeziehen von zivilgesellschaftlicher Expertise in die Politikgestaltung, ganz gleich, ob es nun um die innenpolitische Situation in Iran, regionale Sicherheitsangelegenheiten oder internationale Bedenken hinsichtlich des Atomprogramms geht.

1. Die Priorisierung einer umfassenden Menschenrechtsperspektive

Die EU muss ihren Aussagen zu Menschenrechten Taten folgen lassen und deren Schutz als eigenes Ziel festhalten, ähnlich den anderen Interessen, die sie verfolgt. Hierfür muss sie ein strategisches Rahmenkonzept entwickeln, das politische Priorisierung mit wirksamer programmatischer Unterstützung verbindet. Dies erfordert das Einbeziehen der Menschenrechte in allen Dimensionen europäischer Iranpolitik, von Sicherheitsfragen über wirtschaftliche und soziale Aspekte bis hin zu Umweltthemen und dem digitalen Bereich.

Ein solches Rahmenkonzept erfordert das Einbeziehen der Menschenrechte in allen Dimensionen europäischer Iranpolitik.

Im Besonderen umfasst das auch die Stärkung der Menschenrechte in Iran und den Schutz von Frauen- und Menschenrechtsverteidiger*innen, wo auch immer sie arbeiten (müssen). Ebenso gehört hierzu eine glaubwürdige Umsetzung und Stärkung von Mechanismen internationaler Strafverfolgung, wie sie unter anderem die UN Fact Finding Mission empfiehlt. Deren erneuertes Mandat zu unterstützen bedeutet konkret auch, dass weder die EU noch ihre Mitgliedstaaten hinter die nunmehr etablierte Sprache und die von der Mission dokumentierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und geschlechtsbezogene Verfolgung zurücktreten sollten, die eine effektive Grundlage für internationale strafrechtliche Verfolgung bietet.

Um konsequent und glaubwürdig zu sein, muss die EU menschliche Sicherheit, die Gleichstellung der Geschlechter und Frauen- sowie Menschenrechte grundlegend und über Iran hinaus berücksichtigen. Dies gilt besonders in einer Region, deren Staaten sehr empfindlich auf das tatsächliche oder vermutete Anlegen verschiedener Maßstäbe reagieren. Das bedeutet, die massiven Menschenrechtsverletzungen und regionalen Destabilisierungstaktiken Irans nach denselben Grundsätzen zu beurteilen wie das Vorgehen von Nachbarländern wie Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten oder Ägypten. Derselbe Maßstab sollte auch selbstkritisch für die Bewertung des Glaubwürdigkeitsverlustes angelegt werden, den die EU durch ihre zögerliche Haltung zu Israels Krieg in Gaza als ernstzunehmende Akteurin im Bereich Menschrechte erleidet.

Anstatt diese verschiedenen Krisen und Konflikte einzeln und teilweise sehr zögerlich anzugehen, sollte die EU zur Entwicklung eines regionalen Sicherheitsmechanismus‘ beitragen. Dieser sollte von den betroffenen Ländern angestoßen und von der UN geführt werden und mit Gesprächen zu konkreten und zugänglichen Themen wie maritimer und nuklearer Sicherheit beginnen, bevor umfassendere deeskalierende und vertrauensbildende Maßnahmen angegangen werden.

2. Eine kritische Bewertung von Sanktionen als politischem Instrument

Zwar haben Sanktionen ihren berechtigten Platz in der Werkzeugkiste internationaler Akteure, doch ist ihr übermäßiger Einsatz ohne eine Berücksichtigung der möglichen Auswirkungen oder Alternativen hochproblematisch. Anstatt stur an Sanktionen als vermeintlichem Allheilmittel festzuhalten, sollte die EU bestehende und neue Sanktionen in ein umfassenderes strategisches Rahmenkonzept einbinden, das ergänzende Maßnahme zum Erreichen der gesteckten Ziele enthält.

Die EU sollte bestehende und neue Sanktionen in ein umfassenderes strategisches Rahmenkonzept einbinden.

Angesichts der relativen Wirksamkeit und deutlichen Symbolik zielgerichteter Menschenrechtsanktionen, sollte die EU diese weiterhin als Mittel zur Gewährleistung internationaler Rechenschaftspflicht anwenden. Auch die symbolische Signalwirkung ist von Nutzen, wenn sie von ergänzenden politischen Maßnahmen begleitet wird, die dasselbe Ziel verfolgen. Um die Reichweite und Wirksamkeit zielgerichteter Sanktionen zu erhöhen, sollte die EU sowohl neuen Listungen als auch das Schließen bestehender Schlupflöcher nicht nur mit wichtigen Partnern wie Kanada, Großbritannien und den USA, sondern auch im multilateralen Kontext koordinieren. Wie die nukleare Diplomatie mit dem Iran gezeigt hat, war es die – relative – Geschlossenheit der internationalen Verhandlungspartner, die den Sanktionen im UN-Kontext bzw. den von der EU und den USA autonom verfolgten Maßnahmen ihre Wirkungskraft verliehen hat. 

Offenkundig besteht heute weitaus weniger Einigung zwischen den westlichen Bündnispartnern und China sowie Russland. Das macht jedoch eine gründliche Bewertung der erwarteten Auswirkungen restriktiver Maßnahmen umso nötiger, sowohl was die angestrebten Ziele als auch deren möglicherweise nachteiligen Konsequenzen betrifft. Zu diesem Zweck sollten die EU-Mitgliedsstaaten mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst zusammenarbeiten, um Mechanismen für zivilgesellschaftliche Schadensbewertung und gebührende Sorgfalt zu etablieren. So kann die EU auch vermeiden, in Folge eines Gerichtsbeschlusses womöglich Sanktionen gegen einige Einzelpersonen oder Institutionen aufheben zu müssen.

3. Stärkung der Zivilgesellschaft und Rücksprache mit derselben

Die Arbeit mit der Zivilgesellschaft, sowohl beim Entwurf von Sanktionen (etwa durch eine inklusive ex ante Schadensbewertung) als auch bei der Bewertung ihrer Auswirkungen, ist der Schlüssel, um solche oft symbolischen Maßnahmen in ein wirkungsvolleres, weniger nachteiliges Strategieinstrument zu verwandeln. Zudem können zivilgesellschaftliche Expert*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen mit ihrer Expertise dazu beitragen, die der EU zur Verfügung stehenden Politikoptionen zu erweitern, damit das Verhängen von Sanktionen nicht zu einer automatischen Reaktion auf eine schwelende Krise wird. Zudem kann eine intersektionale Perspektive dazu beitragen, die Vielfalt der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen anzuerkennen, sei es in ihrem Arbeitsbereich, ihrer ethnischen Identität oder ihrem sozialen Hintergrund.

In jedem politischen Bereich gegenüber Iran sollte die EU effektive Instrumente für die Einbeziehung der Zivilgesellschaft auf Augenhöhe einsetzen.

Dieser Beitrag zur politischen Entscheidungsfindung gesellt sich zur »traditionellen« Rolle der Zivilgesellschaft vor Ort, die die EU systematischer stärken sollte. In jedem politischen Bereich gegenüber Iran sollte die EU effektive Instrumente für die Einbeziehung der Zivilgesellschaft auf Augenhöhe einsetzen. Ziel sollte es sein, es den zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zu ermöglichen, ihre Prioritäten zu äußern statt lediglich auf externe Forderungen zu reagieren. Die EU sollte zudem anstreben, ihre Hindernisse für Repräsentation und Teilnahme zu reduzieren und versuchen, eine Vielfalt von Menschen zu erreichen, die verschiedene Stimmen und Akteur*innen repräsentieren, darunter unterrepräsentierte und marginalisierte Gruppen. Wichtig ist auch, dass sie die Auswirkungen ihrer Maßnahmen auf die Fähigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen evaluiert, ihre eigene Arbeit aufrechtzuerhalten (gemäß dem alten Prinzip menschlicher Sicherheit »Do no Harm«).

Schlussendlich sollte die EU angesichts zugrundeliegender regionaler Dynamiken bestrebt sein, von Beispielen aus dem weiteren Kontext zu lernen, wie der Konferenz »Supporting the Future of Syria and the Region« und der »Days of dialogue component«. Auf Grundlage solcher Bemühungen und den daraus gewonnenen Erkenntnissen sollte sie die mögliche Einrichtung und kontinuierliche Unterstützung – auch durch finanzielle Mittel – einer Koordinierungsplattform für die iranische Zivilgesellschaft, besonders außerhalb des Iran, prüfen. Diese Plattform sollte über eine eindeutige Strategie, ein Mandat und Ziele verfügen, um Menschenrechtsinterventionen zu koordinieren und Entscheidungen auf Regierungs- und EU-Ebene zu beeinflussen. Sobald diese Plattform eingesetzt ist, kann die EU mit ihrer Unterstützung den strategischeren und regionaleren Ansatz entwickeln, der so dringend nötig ist.

Da die Lage der Menschrechte in Iran einen neuen Tiefpunkt erreicht hat, keine greifbaren Mechanismen für nukleare Nichtverbreitung in Sicht sind, die europäisch-iranischen Beziehungen sich ebenso wie die Sicherheitssituation in der Region beständig verschlechtern und sich die EU auf eine neue Führung im Herbst vorbereitet, ist die Zeit reif für eine neue Herangehensweise gegenüber dem Iran.

Dieser Beitrag umreißt die Leitprinzipien für ein solches strategisches Rahmenkonzept, das auf den Werten feministischer Prinzipien, wie menschlicher Sicherheit sowie Frauen- und Menschenrechten beruht, das den Schwerpunkt auf die Zivilgesellschaft als Hauptquelle für den Wandel legt, und das regionaler Sicherheit den Vorrang vor einseitigen Sanktionen einräumt. Die EU-Institutionen werden bereitwillige Partner*innen finden – in den Mitgliedsstaaten, in der Region und auf europäischer und internationaler Ebene, aber vor allem in einer aktiven und professionellen Zivilgesellschaft und Menschenrechtsgemeinschaft – um mit der Konkretisierung der Details zu beginnen und konkrete Instrumente zu entwickeln, mit der solche Maßnahmen zur Anwendung gebracht werden können.


Der englische Originalartikel wurde am 14. Mai 2024 veröffentlicht.